Das bipolare Modell der Weltwahrnehmung: kritisch oder begeistert?
Schlagworte
Bipolares Modell, Binäres Modell, kritisch, begeistert, plus, minus, Kontinuum, Pole, Transaktionsanalyse, Ok-Positionen
Einsatz in der CoreDynamik
Ausbildungsmodul 1.1: Kontakt, Diagnostik in der Einzelarbeit mit Klienten* und in Wochenendseminaren.
Definition
Das bipolare Modell der Weltwahrnehmung beschreibt ein Kontinuum zwischen den beiden Polen kritisch und begeistert, in dem sich Menschen selbst verorten und andere einschätzen können.
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Erläuterung
Sehr vereinfachend sagt das binäre Modell, dass Menschen die Welt grundsätzlich entweder eher kritisch oder eher begeistert wahrnehmen.
1. Plus: begeistert
Menschen mit dieser Wahrnehmung erleben die Welt als positive Herausforderung unter einem Plus-Vorzeichen. Sie freuen sich über neue Aufgaben und genießen es, wenn sie gefordert sind, wenn sie etwas erleben und leisten können. Sie bejahen das Leben, sehen es als insgesamt positiv und es fällt ihnen leicht, sich glücklich und erfüllt zu fühlen. Wenn etwas auf sie zu kommt, interpretieren sie es grundsätzlich erstmal positiv. Sie schauen gerne zurück oder nach vorn und können auch gut im Moment des Jetzt im Kontakt präsent sein. Man kann sie spüren und wahrnehmen, ist gerne mit ihnen zusammen, weil man das Gefühl hat „da ist jemand zu Hause“. Diese Menschen denken von sich „Ich bin ok“.
Stärken des begeisterten Pols sind die starke Kontaktfähigkeit und der Optimismus, sowie ein guter Zugang zu den eigenen Ressourcen. Schwächen können sein, dass zu wenig kritische Prüfung von Plänen oder Handlungen auf Realisierbarkeit stattfindet, was in Leichtsinnigkeit münden kann. Oder dass die Positivität eigentlich eine Schönfärbung darstellt, die aus einem übersteigerten Bedürfnis nach Intensität und Nähe entspringt oder auch auf der Ablehnung eigener Schwäche, und eigentlich auf einer Unverbundenheit mit dem Kern beruht, die versucht wird durch Außenkontakt zu kompensieren.
2. Minus: kritisch
In der kritischen Grundhaltung empfinden Menschen das Leben eher als Last, erfahren es unter einem Minus-Vorzeichen. Herausforderungen stehen sie misstrauisch gegenüber und sie sehen sie leicht als Überforderung. Sie neigen dazu, an einer Situation eher die Haken zu sehen als die Chancen und die eigenen Schwächen stärker wahrzunehmen als die Ressourcen. Weil sie sich oft Sorgen machen über das was kommt oder kritisch bewerten was war, fällt es ihnen nicht so leicht im Hier und Jetzt zu sein. Sie fühlen sich oft melancholisch oder betrübt und wirken auf andere leicht reserviert, zweifelnd oder abwehrend. Menschen an diesem Pol denken von sich „Ich bin nicht ok“. Die Stärken des kritischen Pols liegen in der sorgfältigen Prüfung der Realität, in dem behutsamen und sicherheitsorientierten Vorgehen und in dem achtsamen Einteilen von Ressourcen. Schwächen können in der Tendenz liegen, grundsätzlich erst mal im Widerstand zu stehen, Ideen gleich im Keime mit Bedenken zu ersticken und in dem fehlendem Zutrauen zu den eigenen Kräften.
Beide Pole entstehen biografisch. Schock- oder Bindungstraumata, oft schon vorgeburtlich, können zu einer Unterbrechung oder Störung des Kontaktes mit dem eigenen vitalen Wesenskern (Core) führen und damit das Vertrauen in sich selbst und in das Leben grundsätzlich schwächen. So entwickelt sich der Minuspol. Ebenso kann die kindliche Erfahrung den Pluspol übersteigern, wenn die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen eigentlich nur durch Niedlichkeit, Dominanz, Verantwortungsübernahme, sprühende Auftritte oder Leistung zu erringen war. Dann kann es geschehen, dass im Erwachsenenalter eine Maske von „Ich bin ok“ dazu dient, tatsächliche Unsicherheit und Unverbundenheit mit dem inneren Kern zu überdecken.
Das binäre Modell stimmt mit den grundlegenden OK-Positionen aus der Transaktionsanalyse überein: OK und Nicht-OK. Es kann erweitert werden in die vier Kombinationen von„ Ich bin OK / nicht OK“ und „du bist OK / nicht OK“.
Die Kenntnis des Modells hilft dabei, sich selbst leichter einzuschätzen und zu akzeptieren, wie man ist. Es lädt zudem dazu ein, bisher unerforschtere Teile des Kontinuums auszuprobieren und sie sich zu erschließen. Zugleich erklärt es einen Aspekt der Unterschiedlichkeit zwischen Menschen, was es leichter macht, anders gepolte Personen zu verstehen, ihr Verhalten nicht persönlich zu nehmen und angemessen auf sie zuzugehen.
Besonderheiten in der CoreDynamik
Wir setzen für die Selbstdiagnostik zwischen den beiden Polen gerne das Seil als Medium ein. Klienten können spüren, wie verschieden der Körper an den verschiedenen Polen reagiert. So kann am Minus-Pol eine große Müdigkeit und Schwere lähmend auf den Gliedern lasten, während am Plus-Pol regelrecht die Knie wackeln und ein Schwindel spürbar werden kann, weil der Bodenkontakt verloren geht. Dabei gehen wir wertfrei davon aus, dass in beiden Extrempolen eine Übertreibung, bzw. eine Unverbundenheit mit dem inneren Kern eine Schwächung der Persönlichkeit darstellt. Das Kontinuum zwischen den Extrempolen ist lohnenswert zu erforschen. Wir laden den Forscher dazu ein herauszufinden, welche Positionen am Seil er aus welchen Alltagssituationen kennt. Teilnehmer stecken ein Intervall ab auf dem Seil, das ihnen bekannt ist und können sich auch für den Moment einstufen, wo sie jetzt gerade stehen. Damit binden wir Menschen nicht an ein reines Plus oder Minus, sondern lassen Raum dafür, dass jemand kontextabhängig unterschiedlich empfinden kann. Die Erkenntnis aus der Selbstdiagnose kann sein, in welcher Richtung der eigene Intervall erweiterbar ist. Mit dem Kennenlernen des gesamten Kontinuums kann auch klar werden, aus welcher Richtung ein anderer Beziehungspartner kommt und auch dafür entsteht mehr Verständnis und Raum neue Ideen, wie ein guter Umgang mit der Unterschiedlichkeit gehen kann. Bernhard Mack nutzte das Modell unter der Bezeichnung „Die binäre Wahrnehmung der Welt“. Wir sprechen heute eher vom „bipolaren Modell der Weltwahrnehmung“, da uns das Kontinuum zwischen den beiden Polen mindestens genauso erforschenswert erscheint, wie die binären Extreme „Plus“ und „Minus“.
Hier weiterlesen
• Bernhard Mack, 2000. Führungsfaktor Menschenkenntnis. Landsberg/Lech: Verlag Moderne Industrie, S. 53 ff.
• Ian Stewart, Vann Jones, 2000. Die Transaktionsanalyse. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 177 ff.
• Laurence Heller, Aliene Lapierre, 2012. Entwicklungstrauma Heilen. Alte Überlebensstrategien lösen. Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken. Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung. Pößneck: GGP Media GmbH, S. 58
Autorin dieses Artikels: Christina Hennig, Stand November 2020
* Gendern in der Sprache: Im Sinne der guten Lesbarkeit finden sich in den Beiträge mal die männliche, mal die weibliche Form für Klient*innen in wechselnder Kombination mit der männlichen oder der weiblichen Form von Berater*innen. Gemeint sind Menschen aller geschlechtlichen Orientierung.