Gefühle
Schlagworte
Erfahrungsdimension II, Gefühle, Wut, Angst, Scham, Trauer, Freude, Emotionen
Einsatz in der CoreDynamik
Modul 1.1: Kontakt – Gefühle finden in der Einzelbegleitung immer Aufmerksamkeit. In der Ausbildung hinaus geht es um den Aufbau einer Kompetenz im Umgang mit Gefühlen und Emotionen.
Definition
Gefühle sind eine Reaktion des Organismus auf ein inneres oder äußeres Erleben. Wir spüren sie körperlich und interpretieren sie biografisch. Es ist ihre Natur, auf einen Impuls hin anzuschwellen, Energie für einen Ausdruck zu mobilisieren und wieder zu verebben. Gefühle sind soziale Kräfte, die uns helfen als Individuen mit unseren Mitmenschen in Beziehung zu treten und angemessen mit Situationen umzugehen, die uns im Miteinander begegnen. Als Emotionen bezeichnen wir angestaute und unerlöste Gefühle (vgl. Dittmar S. 16 f.)
Erläuterung
Gefühle regulieren unsere Beziehungen (vgl. Baer / Frick-Baer S. 108) zu anderen Menschen und zur Welt. Sie verbinden uns und fordern uns auf uns abzugrenzen oder zurückzuziehen. Sie verhelfen uns auch zu einer individuellen Bewertung, ein Denken ohne Gefühle gibt es nicht. Obwohl wir manchmal meinen, wir seien denkende Geschöpfe, die auch fühlen, sind wir biologisch gesehen fühlende Wesen, die denken (vgl. Bolte Taylor S. 30). Wenn wir eine Situation unbewusst aus einem Gefühl heraus als gefährlich bewerten, ist unser Denken unwillkürlich auf das Erfassen Indikatoren gerichtet, die diese Bewertung bestätigen. Gefühle stoßen Entscheidungen an und mobilisieren körperlich die Energie für eine Reaktion. Sie regulieren die Intensität unseres Empfindens und die Tiefe unserer Erfahrung ist direkt verbunden mit unserem emotionalen Engagement. So verankern sich jene Erlebnisse besonders tief in unserem Gedächtnis, die wir mit starken Gefühlen verbinden. Auf diese Weise spannen Gefühle Bögen von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft. Denn auch unsere Erwartungen sind von Gefühlen durchtränkt.
Mit der Betrachtung von Gefühlen eng verbunden sind Begriffe wie Befinden, Stimmungen, Affekte, Leibregungen oder Bewusstseinszustände (vgl. hierzu Baer / Frick Baer S. 113 ff. und Dittmar S. 16 ff.), also das gesamte Erleben unsere Innenwelt und der Außenwelt und unsere ganze Palette an Reaktionen darauf.
Die fünf Grundgefühle
Es wird in der Psychologie jedoch von fünf Grundgefühlen ausgegangen, die in allen menschlichen Kulturen vorkommen und die einen deutlich unterscheidbaren Gesichts- und Gesamtkörperausdruck haben: Wut, Angst, Scham, Trauer und Freude
So entsteht die Wut aus der Frustration heraus, das Gewünschte nicht bekommen zu haben oder eine Grenzüberschreitung zu erleben. Die Aktivierung durch Wut mobilisiert die Energie im Körper, diesen unangenehmen Zustand zu verändern. Angst hingegen macht uns auf eine Gefahr aufmerksam und mobilisiert Kräfte, der Situation durch Kampf oder Flucht zu entgehen. Scham erwächst aus der Empfindung des Herausfallens aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und aus dem damit verbundenen Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben. Sie regt unsere Selbstreflektion in der Beziehung zu anderen an und sichert damit unsere Bindungen. Trauer zeigt uns einen Verlust an und sorgt dafür, dass seelische Wunden Aufmerksamkeit bekommen. Durch das Würdigen des Vergangenen kann das Verlorene schließlich zu einer Kraft reifen, aus der wir schöpfen können mit dem Blick auf das Jetzt und nach vorne. Freude entsteht, wenn wir uns in Harmonie mit der Gegenwart fühlen. Dann können wir uns ausdehnen, uns verbinden mit anderen Menschen und der Welt, Neugier und Entdeckerlust erregen unsere Aufmerksamkeit.
Jedes Gefühl hat eine ihm eigene Erregungskurve, die vom Ausgangszustand der Ruhe über Empfinden, Gewahrsein, Mobilisierung von Energie, Handlung, Kontakt, Nachkontakt/Loslassen wieder zur Ruhe führt (siehe Kontakterregungszyklus). Wird diese Kurve nicht vollständig durchlaufen und vollendet, verbleibt die mobilisierte Energie im Körper gehalten. Findet sich keine Lösung dafür, verschwindet diese Dynamik aus unserem Bewusstsein, bleibt aber unbewusst eine Form von emotionaler Ladung wirksam. Wir definieren analog zu Vivian Dittmar Emotionen als angestaute und unerlöste Gefühle. In der Gestalttherapie sprechen wir von „unerledigten Geschäften“ oder „nicht geschlossenen Gestalten“.
Gefühle folgen keiner Logik. Sie sind auf vielfältige Art und Weise miteinander verwoben, sie bilden Ketten und überlagern einander, bilden ganze Landschaften (vgl. Baer / Fricke-Baer S. 120 ff.). Sie zu erforschen ist sehr faszinierend. Wir begegnen darin unserer Geronnenen und Pulsierenden Lebensenergie, die wir freisetzen können für das, was uns wirklich am Herzen liegt. Sie sind eine Quelle unendlichen kreativen Potenzials und je besser wir uns damit auskennen, je feiner wir spüren können, umso weniger Drama braucht es, damit wir uns lebendig fühlen können.
Besonderheiten in der CoreDynamik
Die Gefühle sind Teil der Erfahrungsdimension II im coredynamischen Modell des integralen Bewusstseins.
Zu Beginn der Selbsterfahrung geben wir den Gefühlen viel Raum und Bedeutung. Mit den eigenen Gefühlen vertraut werden, sich ihnen hingeben und sie in ihrer Tiefe ausloten, einen Ausdruck dafür finden und angestaute Emotionen in einem sicheren Raum entladen. Erkennen, dass wir willentlich in ein Gefühl eintauchen können und auch wieder heraustreten („Rein in die Sauße und raus aus der Sauße.“), all das sind wesentliche Schritte, damit das Zutrauen zu den eigenen Gefühlen und damit auch zur eigenen Empfindsamkeit wächst. Empfindsamkeit und Verletzlichkeit gehen Hand in Hand, wenn wir uns wirklich auf das Leben, auf Kontakt und auf Beziehungen einlassen wollen. Wenn wir Freude und Begeisterung empfinden wollen, müssen wir auch Angst und Scham umarmen, denn es ist nicht möglich, selektiv nur das Angenehme zu fühlen und das Unangenehme nicht. (vgl. Brené Brown).
Je selbstverständlicher wir die Intensität all unserer Gefühle angenommen haben, sie fühlen können und ihre Botschaften verstehen, sie als energetische Naturphänomene und kreative Impulse verstehen können, umso leichter können wir uns ausdehnen in echte Freude. Umso vertrauensvoller kann unser Herz so weit werden, dass echtes Mitgefühl möglich wird, ohne dass unsere Schutzmechanismen uns abschirmen müssen. Hier kann nun natürliches Wachstum über die Identifizierung mit den Gefühlen hinaus als echte Reifung möglich werden und die Bedeutung der Gefühle lässt wieder nach (vgl. Mack: CoreDynamik, S. 67 und s. auch Beitrag zu präpersonal und transpersonal). Unsere menschlichen Gefühle sind eine komplexe und atemberaubend faszinierende Landschaft. Doch es gibt noch mehr wahrzunehmen. Andere Menschen und Wesen, die Natur als Ganzes, kreative Impulse … Wenn unsere Gefühlswelt befriedeter ist, wenn die Wellen nicht mehr so hoch schlagen und unsere Aufmerksamkeit binden, können wir zunehmend freier unseren Blick heben und unsere Sinne schärfen für das, was über uns hinaus lebt und mit uns in Beziehung steht.
Der Gefühlsparcours
Das vertraut werden mit den eigenen Gefühlen und der Aufbau von Ausdrucksfähigkeit für Gefühle steht daher am Anfang der Ausbildung. Der Gefühlsparcours, bei dem die Stationen TROTZ, WUT, ANGST, SCHAM, TRAUER, NÄHE, MITGEFÜHL, DANKBARKEIT und FREUDE durchlaufen werden, ist wie ein Labor der Gefühle, in dem die einzelnen Qualitäten ausprobiert und in ihrer Intensität moduliert werden können. Es besteht die Möglichkeit, durch spezifische Körperhaltungen, unterstützt durch Atmung und Stimme, das entsprechende Gefühl zu einzuladen (Fake it, till you make it). Oftmals lässt sich das echte Gefühl dadurch tatsächlich hervorlocken und es entsteht die Chance, sich dem in einem sicheren Raum mit ganzer Muße hinzugeben.
Trotz, der die Funktion von Abgrenzung und Identitätsentwicklung hat, kann durch folgende Körperhaltung hervorgerufen werden: Arme verschränken, bockiges Gesicht machen, mit dem Fuß aufstampfen. Im Trotz ringen zwei Grundbedürfnisse miteinander: Das Bedürfnis nach Autonomie jenes nach Zugehörigkeit. Im Gefühlsparcours ist der Trotz-Platz ein wichtigen Ort für Teilnehmende, sich aus dem Geschehen herausziehen zu können, wenn es zu viel oder zu komplex wird. Seine „Nebenwirkung“ ist eine geladene Form von Starre. Es ist nicht ganz leicht, eine trotzige Haltung wieder aufzugeben.
Scham mit ihrer Funktion der Selbsteflexion und des Regulativs in sozialen Systemen kann durch eine Körperhaltung des Versteckens, Verschwindens und Unsichtbar machens eingeladen werden. Schmal werden, an Schwerkraft verlieren, unauffällig sein, sparsam atmen, Blicken ausweichen. Die Scham unterdrückt unseren freien Selbstausdruck und reduziert unsere Lebendigkeit. Die gleichzeitige massive emotionale Ladung kann sich zum Beispiel in einem roten Kopf zeigen.
Wut, die Befreiungs- und Durchsetzungskräfte mobilisiert, wird durch das Wut-ABC provoziert: Breiter Stand, locker in den Knien, Becken vor, Fäuste ballen, Kiefer vorschieben. Bei unbändiger Wut besteht Verletzungsgefahr. Deshalb ist es wichtig, das Zeugenbewusstsein mitlaufen zu lassen und in Zuständen der Wut und Wut nie gegen Menschen zu richten. Dass dies möglich ist, stellt einen wichtigen Lernschritt dar auf dem Weg, die eigene Wut fühlen zu können.
Angst, die Schutz- und Rückzugsfunktion hat, hat ihren Ausdruck in klein machen, zittern, wimmern, hohe klagende Töne von sich geben. Angst ist als Verengung und in einem Verflachen der vegetativen Funktionen wahrnehmbar, wir fühlen uns kalt und hart, werden blass und zittrig, unsere Sinne sind geschärft und auf die Wahrnehmung von Gefahren gerichtet. Damit vertraut zu werden ist wesentlich, um im Alltag zu erkennen, wann wir in einer Angstreaktion stecken, und um uns selbst darin wieder mobilisieren zu können, um handlungsfähig zu sein.
Trauer, welche die Funktion hat, einen Verlust zu verarbeiten, kann durch weinen, wimmern, klagen und mit dem Oberkörper schaukeln zum Ausdruck gebracht werden. Wenn Trauer fließen darf, werden wir schwer, die Muskelspannung lässt nach in der Einsicht, dass eine Hinbewegung sinnlos ist, da das Vermisste unerreichbar ist. Trauer braucht das Fließen und das Ausspülen der Impulse, etwas festhalten oder zurückgewinnen zu wollen. Wird Trauer nicht gefühlt, möglicherweise aus Angst von ihr überschwemmt zu werden, kann sie sich in eine Depression verwandeln.
Mitgefühl, bedeutet bedingungslose Liebe und Verbundensein, ohne etwas Verändern oder Lösen zu müssen. Aus einer ruhigen und zugleich ganz wachen Körperhaltung heraus können wir unser weit machen eine erfüllende Öffnung hinen, in der alles Raum findet, was ist. Aus dieser gelassenen und vertrauensvollen Zeugenschaft heraus kann die Liebe fließen, ohne dass dabei die eigenen Grenze verloren ginge. Wir schenken damit einem Gegenüber das Vertrauen, sich selbst fühlen zu können und einen eigenen Weg mit seiner Situation zu finden. Bei Mitleid hingegen, gehen die eigenen Grenzen verloren (Konfluenz), wir leiden selbst mit und haben den Impuls, die Situation lösen zu wollen, weil wir es nur schwer ertragen können. Damit sprechen wir der andern Person das Vertrauen ab, dem selbst gewachsen zu sein.
Nähe ist eine wichtige Komponente des Parcours. Intensives Gefühlserleben weckt unser Grundbedürfnis nach nährendem Körperkontakt, Geborgenheit, Wärme, Zugehörigkeit und Zuwendung. Der Kontakt kann vorsichtig, achtsam oder beherzt sein und unterschiedliche Ausdrucksformen finden von einem beieinander sitzen bis hin zu einer warmen Umarmung. Wichtig hierfür ist das Bewusstsein der Teilnehmenden, dass Grenzüberschreitungen einem nährenden Kontakt widersprechen.
Dankbarkeit bedeutet bewusst wahrnehmen und würdigen, sich nähren und inneren Frieden finden. Dankbarkeit findet ihren Ausdruck in einer offenen, gelösten und zugleich wachen Körperhaltung, in der sich das Herz mit Eindrücken und Gefühlen erfüllen kann, wirklich aufnehmen, annehmen, sich daran nähren kann und dafür danken. Unechte Dankbarkeit, die nicht wirklich gefühlt wird, entsteht aus dem Druck sozialer Konventionen und führt zu einer ähnlichen Ambivalenz wie der Trotz.
Freude ist Ausdehnung, Lebendigkeit und Verbindung und drückt sich aus in Lächeln, Lachen, Singen, offener Körperhaltung, Tanzen und schwungvoller Bewegung. Es ist verblüffend, wie groß unsere Angst vor vollherziger Freude oftmals ist, und doch sehr verständlich, denn wir machen ganz auf und sind damit auch Verletzlich. Ein sicherer Rahmen und ermutigende Gesellschaft helfen dabei, die Fähigkeit zur Ausdehnung (wieder) zu entdecken und zu entfalten.
Erwachsen mit Gefühlen
Wenn wir als Erwachsene damit beginnen, uns unserer Innenwelt zuzuwenden, finden wir regelrechte Erdschichten an gespeicherten Emotionen vor, die sich im Verlaufe unserer Biografie gebildet haben. Dort gibt es tiefe Seen von Trauer und vulkanartig glühende Reservoirs von Wut. Wir brauchen Hilfe, um diese Ladung sicher frei zusetzen, denn sie ist ja aus einer Überforderung mit der Heftigkeit einer Empfindung entstanden (s. Beitrag zu Trauma). Mit wachsender Erfahrung wird es immer leichter und doch bleibt es ein Abenteuer.
Im Zusammenleben dieser Welt entstehen zudem immer neue frische Gefühle als Ausdruck unseres Empfindens. Ein bewusster Umgang mit Gefühlen und Emotionen ist daher ein wesentlicher Teil der persönlichen Reife. Hilfestellung dabei können Herangehensweisen leisten, wie von Tara Brach beschrieben in „Dein furchtloses Herz“. Sie leitet Leserinnen* dazu an, Gefühle zu Erkennen, sie zuzulassen, zu erkunden und das dahinter stehende Bedürfnis zu nähren. Auf diese Weise bekommen Gefühle einen lebendigen und wichtigen Platz in der Selbstwahrnehmung und wir können erwachsen damit umgehen.
Und auch nach vielen Jahren der Selbsterfahrung werden immer wieder alte Schichten von Emotionen angerührt, die tief im Verborgen schlummerten, oder eine Situation ist zu intensiv für uns, um sie alleine zu bewältigen. Auch und gerade für Menschen, die mit Menschen arbeiten, bleibt es daher wichtig, sich begleiten und unterstützen zu lassen, zum Beispiel in Supervision.
Hier weiterlesen
Bernhard Mack (Hrsg.) 2001. CoreDynamik. Wege zum Kern. Paderborn: Junfermann.
Bernhard Mack, 1996. Der Liebe einen Sinn geben. Berlin: Simon & Leutner.
Vivian Dittmar, 2014. Gefühle & Emotionen. Eine Gebrauchsanweisung: edition est
Udo Baer & Gabrielle Frick-Baer, 2016. Das ABC der Gefühle. Landsberg: Beltz.
Jill Bolte Taylor: Mit einem Schlag. Wie eine Hirnforscherin durch ihren Schlaganfall neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckt. Knaur Verlag, München 2008
Brené Brown, 2011. Die Macht der Verletzlichkeit. https://www.youtube.com/watch?v=iCvmsMzlF7o&t=20s , gesehen am 1.12.2021
Tara Brach: Dein furchtloses Herz. Mit der RAIN-Methode schwierige Emotionen heilen. Drömer Knaur GmbH & Co. KG , München 2020
Autorin dieses Artikels: Christina Hennig
* Gendern in der Sprache: Im Sinne der guten Lesbarkeit finden sich in den Beiträge mal die männliche, mal die weibliche Form für Klient*innen in wechselnder Kombination mit der männlichen oder der weiblichen Form von Berater*innen. Gemeint sind Menschen aller geschlechtlichen Orientierung.