Berührungsqualitäten
Schlagworte
Berührung, diagnostisch, unterstützend, konfrontativ, verführend, nehmend
Einsatz in der CoreDynamik
Ausbildungsmodul 1.2: Biografie – Berührung als unterstützender Kontakt ist Teil des coredynamischen Methodenrepertoires.
Definition
Mit Berührungsqualität beschreiben wir die Intention der Berührenden und unterscheiden damit ihre Angemessenheit im therapeutischen Kontext oder im Coaching.
Erläuterung
Berührung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Unsere Haut ist übersäht mit Berührungsrezeptoren. Deshalb ist körperlicher Kontakt ein sehr intensiver Impuls für den Organismus. Im Rahmen eines therapeutischen Prozesses kommt es regelmäßig zu einer Destabilisierung des Systems des Klienten*. Dies ist sogar notwendig, wenn eine bestehende innere Ordnung durch eine Entwicklung geht, um sich zu aktualisieren. Wenn wir etwas umstellen, gibt es zunächst ein Durcheinander. Dieser Übergang von einer bestehenden inneren Ordnung in eine neue fühlt sich verunsichernd an und der Organismus gerät in eine Stressreaktion. Diese kann je nach Tiefe der Themenstellung und auch je nach Betroffenheit der verschiedenen Erfahrungsdimensionen sehr leicht ausfallen oder auch bedrohlich wirken. Körperkontakt von einem zugewandten und wohlmeinenden menschlichen Wesen hilft dem Organismus, sich zu regulieren. Genauso können die Berührungen einer Therapeutin auch Impulse setzen, die Aufmerksamkeit des Klienten in eine Körperpartie lenken und einen stärkeren Energiefluss dort initiieren. Ausgebildete Körpertherapeuten haben natürlich ein ausgefeiltes System von Berührungen und Griffen, aber auch rein psychologisch ausgebildete Therapeutinnen können mit Berührung den Prozess unterstützen. Vorausgesetzt sie tun dies in einer eindeutig therapeutischen Berührungsqualität und mit einer hohen Sensibilität für das Einverständnis der Klienten. Im Rahmen von Coachings ist Berührung allgemeinhin nicht selbstverständlich. Doch auch hier ist es möglich, wenn der Coach den Körperkontakt als ein Medium in der Begleitung kompetent einsetzt und klärt, ob die Klientin einverstanden ist. Berührung geschieht nicht nur über Körperkontakt, sondern auch durch Blicke, Stimme und bereits durch Aufmerksamkeit. Auch in diesen Dimensionen ist eine klare und sichere Qualität von Berührung wesentlich.
Besonderheiten in der CoreDynamik
Wir halten die Fähigkeit des achtsamen Berührens für eine grundlegende Facette von Kontakt. Auch über die therapeutische Arbeit hinaus im lebendigen Kontakt mit dem eigenen sozialen Umfeld. Und doch sind viele Menschen unsicher im Körperkontakt. Die Berührungsqualitäten helfen, eine klare und eindeutige Form zu finden, eine andere Person angemessen zu begleiten. Und auch zu erkennen, welche Arten von Berührung im therapeutischen Kontext heilsam sind und welche dort nichts zu suchen haben.
Wir unterscheiden sie analog zu den Entwicklungsarchetypen (Modul 1.5).
Diagnostische Berührung: Ausloten der Verfassung eines Klienten
Diese Qualität kennen wir aus der Familie, wenn die Eltern fühlen, ob das Kind eine warme Stirn hat. Oder von der ärztlichen Behandlung, wo getastet, geklopft und abgehorcht wird. Körpertherapeuten spüren die Anspannung der Muskeln, die Position der Knochen zueinander und den Energiefluss. In der therapeutischen Begleitung ohne spezifisch körpertherapeutische Ausbildung verwebt sich die diagnostische Berührung häufig mit der unterstützenden Berührung. So legt der Therapeut zum Beispiel die Hand auf die Schultern des Klienten, um zu spüren, wie der Grad der Anspannung ist. Dies ist der diagnostische Teil. Zugleich enthält diese Geste auch einen unterstützenden Charakter. Es ist eine elterliche Geste, die Hände leicht und sicher auf die Schultern von jemand anderem zu legen und ihm damit das Gefühl zu geben, jemanden im Rücken zu haben.
Berührung kann aber auch dazu dienen, Kontakt im Raum auszuloten und zu untersuchen. Zum Beispiel, indem Coach und Klientin sich voreinander positionieren und die Hände aneinander legen. Und dann durch Impulse langsam die beiden Hände mehr in den Raum des einen oder des anderen hineinbewegen. Hier kann die diagnostische Berührung auch in eine konfrontierende übergehen, wenn die Frage nach der Grenze relevant wird. Der Entwicklungsarchetypus zur diagnostischen Berührung ist der des Weisen / der Weisen. Jemand, der schon alles gesehen hat im Leben und die Dinge so nimmt, wie sie sind. Der sie mit seiner Erfahrung und seinem Wissen einschätzen kann und einen Weg findet, damit umzugehen.
Unterstützende Berührung: Qualität von Halt oder nährender Fürsorge
Besonders in regressiven Prozessen, wenn sich also eine kindliche und schutzbedürftige Seite der Klientin zeigt, gibt es die Möglichkeit des Nachbeelterns oder Nachnährens. Die Klientin kommt in Kontakt mit ihrer Bedürftigkeit, die von einer früheren defizitären Erfahrung herrührt. Wie zum Beispiel die Trennung der Eltern, als sie klein war und es hatte niemand den Raum, ihr alles zu erklären. Ihr Bedürfnis, in den Arm genommen zu werden, hat niemand bemerkt und sie konnte es nicht ausdrücken. So kann es geschehen, dass Angst und Trauer in dieser Situation keinen Ausdruck finden konnten. Die Emotionen bleiben im System gespeichert und es fehlt ihr Erfahrung, dass sie sich mit Angst und Trauer jemandem anvertrauen kann. Das kann zu einer Wiederholung der Erfahrung führen, weil sie sich in solchen Situationen zurück zieht, um die Erfahrung zu vermeiden, dass wieder niemand Raum für sie hat. Geschieht es nun, dass die Klientin im therapeutischen Prozess in Kontakt mit dieser Bedürftigkeit kommt, dann kann sie eine neue Erfahrung machen. Wenn nämlich die Therapeutin mit ihrer Präsenz da ist, während Angst und Trauer sich entfalten und lösen können. Damals war niemand da, der das hätte tun können. Heute fühlt sie ihr Bedürfnis wieder und jetzt ist jemand da. Eine Möglichkeit die unterstützende Präsenz spürbar zu machen ist, dass die Therapeutin zum Beispiel eine warme Hand an den Oberarm der Klientin legt, während diese ihren Gefühlen Raum gibt und weint oder spricht oder auch still durch den Prozess geht. Die alte Emotion kann sich entladen. Es kann neues Vertrauen entstehen, dass es sicher ist, sich mit Trauer und Angst zu zeigen, wenn das Gegenüber für einen da ist. Diese neue Erfahrung ist dann wiederum übertragbar in die partnerschaftliche Beziehung und andere Kontakte. Die unterstützende Berührung speist sich aus der archetypischen Qualität von Mütterlichkeit / Väterlichkeit.
Konfrontative Berührung: Qualität von Widerstand und Provokation
Ein klarer Ausdruck von Wut und Aggression ist nicht unbedingt Teil unserer Sozialisierung. Viele Menschen haben Angst vor ihrer eigenen Wut und schlucken sie deshalb herunter. Die Folgen sind gehaltene Emotionen, die sich als Spannung chronifizieren und dann auch psychische und körperliche Beschwerden verursachen können. Eine weitere Folge ist die Unsicherheit im klaren Vertreten des eigenen Standpunktes. Wenn im therapeutischen Kontext die Wut des Klienten erwacht, kann dies eine sinnvolle Gelegenheit sein, diese einzuladen, damit sie einen angemessenen Ausdruck finden kann. Damit bekommt der Klient die Gelegenheit, seine Wut zu fühlen und damit zu forschen. Er kann die Erfahrung machen, welches Kraftpotenzial darin steckt und dass er den Ausdruck seiner Wut lenken kann. Viele Menschen haben Sorge, zu viel zu zerstören, wenn sie sich mit ihrer Wut verbinden. Der Therapeut lockt die Wut des Klienten, indem er in angemessener Form Widerstand bietet. Das kann die Hand sein, die er dem Klienten anbietet, um dagegen zu drücken. Oder das Handgelenk, um das der Klient seine Hände legt und mit aller Kraft zudrücken kann. Es kann auch kann die Ermutigung sein, die Stimme zu erheben. Oder der Ausdruck von Kraft gegenüber einem Kissen oder einem anderen verletzungsfreien Gegenstand. Oder auch ein deutliches Signal für die persönliche Grenze.
Die konfrontative Berührung speist sich aus der archetypischen Kraft der erwachsenen Frau und des erwachsenen Mannes. Klar Position beziehen, für den eigenen Standpunkt einstehen, und den anderen fordern das gleiche zu tun. Es handelt sich um eine Ressourcenorientierung und -aktivierung, wenn Therapeuten oder Coaches ihren Klienten zutrauen und es ihnen ermöglichen, ihre Kraft für ihre Belange zu mobilisieren und ihre Grenze ganz deutlich zu zeigen.
Verführende Berührung: Qualität von Erotik
Diese Berührungsqualität ist im therapeutischen Kontext tabu. Die Therapie ist der sichere Raum, in dem Klienten ihre Schutzmechanismen loslassen können. Aufgabe der Therapeutin ist es, diesen Raum sicher zu halten und die Grenzen der Klientin zu beachten und zu stärken. Selbst wenn von Seiten der Klientin erotische Impulse kommen, bleibt die Therapeutin in einer der drei erstgenannten Berührungsqualitäten. Verführende Berührung im therapeutischen Kontext ist ein Akt von Missbrauch des Vertrauens der Klienten.
Die verführende Berührung enthält die archetypische Qualität der Jugend mit ihren romantischen Aspekten und dem Austesten von Grenzen. Therapeuten können jugendliche Qualitäten spiegeln und sie bei ihren Klienten fördern, wenn dies der Wachstumsweg ist. Begleitend aus dieser Qualität heraus zu agieren sollte sehr achtsam geschehen und niemals grenzüberschreitend oder missbräuchlich. Heilsame Interventionen aus dem Archetypus der Jugend heraus finden sich bei den Entwicklungsarchetypen.
Nehmende Berührung: Qualität von eigener Bedürftigkeit
Auch diese Berührungsqualität ist im beraterischen Kontext tabu. Bei Coaching und bei Therapie handelt es sich um eine asymmetrische Beziehung. Die Aufmerksamkeit fließt vom Therapeuten zum Klienten, dafür bezahlt der Klient ein Honorar. Eine Umkehrung dieses Kraftflusses ist unangemessen und kann retraumatisierend wirken. Viele Menschen haben in ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, dass ihre Eltern in manchen Situationen zu wenig Aufmerksamkeit, Energie oder Kraft hatten, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu stillen. Die Therapie ist genau der Ort, um auch solche Erfahrungen zu heilen. Zeigt der Therapeut sich bedürftig, kehrt sich der Fluss der Aufmerksamkeit um, der Klient übernimmt Verantwortung für das Wohlergehen des Therapeuten oder fühlt sich dazu aufgerufen. Eine alte Erfahrung wird wiederholt.
Bedürftigkeit ist die archetypische Qualität des Kindes. Viele andere kindliche Qualitäten sind im therapeutischen Kontext sehr angemessen (s. Entwicklungsarchetypen). Doch der Therapeut bleibt immer in der Rolle des Gebenden / Rahmenhaltenden im Verhältnis zum Klienten. Was nicht heißt, dass Therapeuten keine Bedürfnisse haben oder äußern dürften. Im Gegenteil, es ist wichtig, auch als Mensch sichtbar zu sein. Die Grenze verläuft dort, wo der Therapeut Aufmerksamkeit vom Klienten zu sich zieht, die eigentlich in den Prozess gehört.
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Bernhard Mack, 2001. CoreDynamik. Wege zum Kern. Paderborn: Junfermann
Autorin dieses Artikels: Christina Hennig
* Gendern in der Sprache: Im Sinne der guten Lesbarkeit finden sich in den Beiträge mal die männliche, mal die weibliche Form für Klient*innen in wechselnder Kombination mit der männlichen oder der weiblichen Form von Berater*innen. Gemeint sind Menschen aller geschlechtlichen Orientierung.