Kontaktunterbrechungen
Schlagworte
Kontakt, Projektion, Retroflektion, Introjektion, Konfluenz, Deflektion
Einsatz in der CoreDynamik
Ausbildungsmodul 1.1: Kontakt – Kontaktunterbrechungen werden im Rahmen der Diagnostik berücksichtigt, um zu prüfen, auf welche Weise die Kontaktfähigkeit eines Menschen eingeschränkt ist und erweitert werden kann.
Definition
Kontaktunterbrechungen charakterisieren sich durch die dysfunktionale Verschiebung der Grenze zwischen eigenem Erleben und der Wirklichkeit des Gegenübers. Es sind ihrer fünf an der Zahl: Konfluenz, Introjektion, Projektion, Retroflektion und Deflektion.
Erläuterung
Das Konzept der Kontaktunterbrechungen stammt aus der Gestalttherapie, für die Kontakt ein zentraler Fokus darstellt. Zugrunde liegen Kontaktfunktionen als eine sinnvolle Form den Kontakt zu modulieren
1. Konfluenz
Konfluenz beschreibt den Zustand einer Angleichung zweier Organismen bis hin zur Verschmelzung. Die Grenzen zwischen diesen Organismen sind durchlässig und nur schwer auszumachen. Praktisch können wir uns darunter ein Angleichen oder Verschwimmen mit Haltungen (z.B. Einstellungen zu einem Thema) oder Empfindungen (Du leidest, dann kann ich auch nicht froh sein.) vorstellen.
Als Kontaktfunktion ist die Konfluenz notwendig, sinnvoll und genussreich zum Beispiel in der Sexualität, wenn sich zwei Körper aufeinander einschwingen. Oder in einem Orchester, wenn die Musikerinnen* ihre einzelnen Instrumente zu etwas größerem zusammenklingen lassen.
Um eine Kontaktstörung handelt es sich, wenn Unterschiedlichkeit verschwindet und nur noch schwer wiederzuerlangen ist. Wenn eigene Bedürfnisse und Impulse nicht mehr wahrnehmbar sind und damit dem größeren Ganzen (z.B. einer Partnerschaft oder einem Team) als lebendige Anstöße verloren gehen.
2. Introjektion
Von einer Introjektion kann gesprochen werden, wenn Eindrücke von außen unreflektiert als eigene Wahrheiten angenommen werden. Die eigene Grenze liegt sehr weit Innen, sodass Reize von Außen ungefiltert im System landen können. Bei diesen Reizen kann es sich um Normen handeln (z.B.: Auf der Straße zeigt man sich nur bekleidet), um Haltungen (z.B. Jeder tut sein Bestes) oder um Zuschreibungen (Frauen können besser Sprachen, Männer besser Mathe).
Als Kontaktfunktion ist die Introjektion unerlässlich, denn so lernen wir die komplexen unausgesprochenen Regeln, die das Zusammenleben in Gruppen und Gesellschaften organisieren.
Zu einer Kontaktstörung wird es, wenn aufgrund fehlender Selektion an der Grenze zum eigenen Persönlichkeitsraum Botschaften aufgenommen werden, die sich für das Individuum als unbekömmlich herausstellen. Zum Beispiel eine Zuschreibung (z.B. Das kannst du nicht.), die mit den eigenen Bedürfnissen (z.B. Genau „Das“ ausprobieren.) im Konflikt steht. Fehlt dann die Energie, die unbekömmliche Botschaft bei seinem Gegenüber zu belassen und eine eigene Haltung zu finden, muss man mit dem inneren Konflikt zwischen Botschaft und Bedürfnis leben. Die Energie, die in diesem Konflikt gebunden ist, fehlt im offenen Kontakt. Zu wenig Rückmeldung von Grenzen sorgt für eine Profillosigkeit und ohne ein klares „Nein“ bei nicht Gewolltem kann es auch kein klares „Ja“ bei wirklich Gewolltem geben.
3. Projektion
Projektionen finden statt, wenn eigene Haltungen und Empfindungen unbewusst auf die Außenwelt übertragen werden. Hier liegt die eigene Grenze weit im Außen. Bildhaft kann man sich vorstellen, dass wir unbewusst eine Leinwand zwischen uns und dem Gegenüber aufspannen und darauf eigene Konzepte und Gefühle projizieren, die wir dann der anderen Person zuschreiben.
Damit ist die Projektion als Kontaktfunktion ein Aspekt von Empathie. Wenn ich mich in eine andere Person einfühlen möchte, stelle ich mir vor, was in mir vorginge, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Beispiel: Deine Augen funkeln, wenn ich dir die Stifte anbiete, bestimmt liebst du es auch so mit Farbe zu arbeiten wie ich. Geschulte Empathie würde bedeuten, diese Zuschreibung dann auch zu überprüfen: „Arbeitest du gerne mit Farben?“
Zu einer Kontaktstörung kommt es, wenn die Überprüfung unserer Hypothesen ausbleibt, und wir zudem abgespaltene Teile unseres Selbst auf andere projizieren. Ein Beispiel wäre der ärgerliche Gedanke „Er kommt 10 Minuten zu spät, war ja klar, dass ihr unsere Verabredung nicht wichtig ist!“, wenn in Wahrheit ich diejenige bin, die sich zu der Verabredung überwinden musste, aber nicht die Klarheit besaß abzusagen. Der Kontakt zur anderen Person ist dann geladen mit einer Dynamik, die eigentlich intrapsychisch ist und meine Offenheit ihrer Realität gegenüber dadurch eingeschränkt.
4. Retroflektion
Eine Retroflektion besteht, wenn eigene Meinungen, Haltungen oder Bedürfnisse nicht ausgedrückt werden und ihre Ladung auf den Organismus zurückfällt. Dies geschieht durch eine Grenze, die nach außen hin sehr stark ist. Bildhaft ausgedrückt prallt ein abwehrender Impuls innen an der eigenen Grenze ab und wirkt auf die Person selbst zurück. Impulse werden „heruntergeschluckt“, anstatt sie zu äußern.
Die Retroflektion ist eine wichtige Kontaktfunktion, damit Gruppen eine Zeit lang ihre Aufmerksam gemeinsam ausrichten können. So können alle Theaterbesucher die vom Ensemble geplante Inszenierung erleben, weil alle Zuschauer ihre Änderungswünsche für die Dauer der Aufführung für sich behalten, anstatt auf die Bühne zu stürzen und einzugreifen. Auch in Beziehungen ist es nicht angebracht, alles zu sagen, wie zum Beispiel der ungefragte Kommentar: „Ich stelle es mir schrecklich vor, so Haare zu haben wie du.“
Zur Kontaktstörung wird es, wenn dauerhaft wichtige persönliche Abgrenzungen oder angebrachter Gestaltungsimpulse nicht ausgedrückt werden können, weil die Angst vor der Konsequenz größer ist, als das Leid des Unterdrückens. Angst, nicht verstanden zu werden, Angst vor Bindungsverlust, Angst vor Gewalt. Die unterdrückte Ladung wirkt autoaggressiv, sie schlägt sich in Körperspannung nieder und kann selbstzerstörerische Wirkung entfalten.
5. Deflektion
Im Falle einer Deflektion gelangen Impulse von außen nicht im Organismus an. Sie prallen an einer Grenze ab, die nach außen hin sehr stark wirkt. Wir können uns eine Grenze mit „Lotuseffekt“ vorstellen, an der Impulse abperlen und somit nicht hereingelassen und verwertet werden können.
Dies ist als Kontaktfunktion sinnvoll, wenn man ein „dickes Fell“ braucht, z.B. weil man mit verärgerten Kunden zu tun hat, deren emotionale Welle man jobbedingt entgegennehmen muss.
Um eine Kontaktunterbrechung handelt es sich, wenn nährende oder weiterführende Erfahrungen und Kontakte nicht angenommen werden können. Ein typisches Beispiel wäre die Bewertung eines Kompliments als „Der will doch nur nett sein, das hätte er jetzt zu jedem gesagt.“ Oder eine konstruktive Kritik prallt ab, obwohl wir etwas daraus hätten lernen können. Oder eine schöne Erfahrung wird aus Angst sich verletzlich zu machen herabgewürdigt mit „Das war doch nichts besonderes.“
Besonderheiten in der CoreDynamik
Wir werten Kontaktunterbrechungen als normale Gegebenheiten, die entstehen, wenn ein Individuum in einer komplexen Welt aufwächst, und sich dort in Beziehungen und Begegnungen bewegt. Jeder Mensch erlebt Kontakte, die verletzend sind oder übergriffig oder grob. Daraus entwickeln wir die Kontaktunterbrechungen. In der Persönlichkeitsentwicklung ist die Bestrebung, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln und die Kontaktfähigkeit zu erweitern.
Hier weiterlesen
Bernhard Mack, 2001. CoreDynamik. Wege zum Kern. Paderborn: Junfermann, S. 135 ff.
Hilario Petzold, 2004. Integrative Therapie. Modelle, Theorien und Methoden schulenübergreifender Psychotherapie. 2. Auflage. Paderborn: Junfermann.
Autorin dieses Artikels: Christina Hennig
* Gendern in der Sprache: Im Sinne der guten Lesbarkeit finden sich in den Beiträge mal die männliche, mal die weibliche Form für Klient*innen in wechselnder Kombination mit der männlichen oder der weiblichen Form von Berater*innen. Gemeint sind Menschen aller geschlechtlichen Orientierung.